22. Warum uns niemand ins Schreiben reinreden sollte – möglichst auch wir selbst nicht

Menschen, die keine Geschichten schreiben, stellen sich das Schreiben von Geschichten oft so vor: Jemand sitzt am Schreibtisch vor einem leeren Bildschirm oder Blatt Papier und fragt sich, über wen oder was er oder sie denn als nächstes mal schreiben könnte. Und das ist ja auch eine naheliegende Vorstellung. Und wenn diese Menschen zufälligerweise Journalisten oder Literaturkritikerinnen sind, dann fragen sie sich auch schon mal, warum denn die Geschichtenschreiber:innen nicht endlich mal über die Finanzkrise oder die „Berliner Republik“ oder die Facebookerisierung unseres Lebens oder X oder Y schreiben, obwohl das doch tolle Themen wären, zu denen sehr viele Menschen gerne intelligente Geschichten lesen würden.

Zugegeben, es gibt Geschichten, die aus einem solchen Impuls entstehen – aber es sind selten die „guten“, diejenigen, die wir wirklich gerne lesen. Die uns begeistern oder berühren, ohne uns zu erpressen. Es ist einfach so: Geschichten schreiben funktioniert so nicht! Es geht selten gut, wenn wir „über“ etwas schreiben wollen. Scheinbar schreiben wir „nur“ über ein Thema, aber zugleich geraten wir in eine Haltung, in der wir uns auch „über“ den Text, die Leser:innen und das, was uns gerade wirklich „umtreibt“, erheben.

Wir können uns nicht aussuchen, was sich in unserem Kopf einnistet – oder welche Geschichten darauf warten, von uns erzählt zu werden. E. L. Doctorow beginnt das Vorwort seiner Story-Sammlung „Alle Zeit der Welt“ mit folgendem Hinweis: „Ein Roman kann sich in der Vorstellung aus einem suggestiven Bild heraus entwickeln, aus einem Gesprächsfetzen, einem Musikstück, einer Episode aus dem Leben eines anderen, oder aus einer alles beherrschenden Wut …“ und es ist gewiss kein Zufall, dass er eine Reihe von Ereignissen wählt, die uns eher „anwehen“, als dass wir sie gezielt und nach reiflichem Nachdenken ergreifen würden.

Hin und wieder wünschen wir uns das ja auch vielleicht selbst – dass wir ganz frei und unabhängig unsere Schreibanlässe wählen können. Wir können es nicht. Was wir können: Die Augen und Ohren offen halten und auch einmal Gegenden durchstreifen, in denen wir mit für uns Ungewohntem und Widerspenstigem konfrontiert sind. Der Gesprächsfetzen, der alles in Gang setzt, kann uns natürlich auch in einem Fußpflege-Salon, in einer Behinderten-Werkstatt oder dem Wartezimmer eines Schönheitschirurgen „anwehen“ – aber dafür müssen wir dann natürlich auch vor Ort sein …

9 Kommentare

  1. „Wir können uns nicht aussuchen, was sich in unserem Kopf einnistet – oder welche Geschichten darauf warten, von uns erzählt zu werden.“ – hätte mir das nur mal jemand vor 25 Jahren gesagt. Heute weiß ich es, aber ich musste es mühsam selbst herausfinden. Sage es den Menschen, die schreiben, Jutta, sagen ihnen, dass sie darauf vertrauen können, dass das, was in ihrem Kopf ist, genau das ist, was die Leser wirklich brauchen und nicht das, was das Feuilleton und ein paar Literaturkritiker sich so ausdenken.

    1. da stimme ich zu, darf aber ganz vorsichtig ergänzen: „dass sie darauf vertrauen können, dass das, was in ihrem Kopf ist, genau das ist, was die AUTOREN wirklich brauchen“ 🙂

      1. Das ist eine schöne Überlegung! Ich frage mich, ob es vielleicht das „brauchen“ ist, das uns ein wenig in die Irre führt, denn die Leser:innen finden ja oft, was immer sie suchen (brauchen?), allerdings glaube ich auch, dass sie es eher finden, wenn wir vorher zu „unseren Geschichten gefunden haben“.
        Und andererseits: Ich könnte oft nicht sagen, ob ich „brauche“, was ich schreibe, aber ich glaube gleichzeitig, dass es alternativlos ist: „Seins“ zu finden – und das so gut und so präzise und mit aller verfügbaren Hingabe zu machen … (An Donnerstag erlaube ich mir manchmal einen pathetischen Moment 😉

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